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Zu Beginn der Industrialisierung erfolgte die konstruktive Gestaltung der technischen Produkte in der Werkstatt und hier vor allem durch den Meister. Diese frühe Phase der Produktentwicklung war durch die Einheit von Konstruktion und Fertigung gekennzeichnet. Dabei spielte über Jahre erworbene technische Erfahrung eine wesentliche Rolle. Mündliche Anweisungen, Modelle aus Holz und Skizzen bis zu Werkstattzeichnungen auf Papier oder auf Holzbrettern dienten als Kommunikationsmittel. Damit konnten nur grobe Hinweise auf die Entwicklung der Produkte gegeben werden, so dass der Werkstatt umfangreiche Gestaltungsmöglichkeiten erhalten blieben. [SpKr-97]

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den Maschinenbaubetrieben getrennte Konstruktionsabteilungen. Erstmals bildete sich ein Aufgabenbereich Konstruieren1 heraus, der nicht mit anderen Aufgaben der Herstellung eines technischen Produktes verknüpft und insbesondere vom Fertigungsbereich scharf getrennt war. Sowohl die konzeptionelle Leitung der Produktentwicklung als auch die Gestaltung des Produktes bis ins kleinste Detail lag im Konstruktionsbüro. Auch Fragen aus dem kaufmännischen Bereich wurden in der Entwicklungsabteilung geklärt. Der konstruktive Gestaltungsspielraum, den die Werkstatt bisher besessen hatte, sollte nach Möglichkeit vollständig wegfallen. Während früher die Produktentwicklung vorwiegend in der Werkstatt durch Verbesserung und Veränderung teilweise unmittelbar am Produkt selbst erfolgte, fand sie nunmehr weitgehend auf Papier statt. Damit wurden im Umgang mit dem Produkt erworbene Kenntnisse zwar nicht entwertet, aber sie konnten doch durch theoretische Kenntnisse wesentlich ergänzt werden. Die Konstruktionsarbeit reichte von mathematischen Beschreibungsmodellen technischer Sachverhalte bis zu formalen zeichnerischen Darstellungsweisen nach vorgegebenen Normen. Es wurden Kenntnisse erforderlich, die nur bedingt in der industriellen Praxis erworben werden konnten. Durch die räumliche und funktionale Trennung der Konstruktion von der Fertigung wurde es jetzt allerdings schwieriger, die kumulierten Fertigungserfahrungen des Betriebes zu integrieren. [SpKr-97]

Die Konstruktionsarbeit wurde erheblich durch Bestrebungen der Typisierung und Normierung umgestaltet. Dabei wurde hier unter Typisierung die Reduzierung der von einem Unternehmen angebotenen Produkte und die Begrenzung von davon abweichenden Sonderanfertigungen verstanden, womit größere Stückzahlen und Serienfertigung möglich wurden. Normierung bezieht sich dagegen auf die Vereinheitlichung beziehungsweise Festlegung einer möglichst eindeutigen, sinnvoll abgestimmten und rationellen Ordnung durch Normen. Durch die Normung werden unter anderem Form, Größe, und Ausführung von Erzeugnissen und Verfahren sinnvoll geordnet und vereinheitlicht. Normen fördern damit die Rationalisierung und stellen eine gleichbleibende Qualität sicher. [SpKr-97]

Aus dieser Kenntnis heraus richteten die Großbetriebe Normenbüros ein, die die Aufgabe hatten, systematisch die Produktion auf normierte Teile hin zu durchsuchen. Die Ergebnisse dieser Arbeiten wurden dann den Konstrukteuren in Form von Normalientabellen oder Normalienbüchern zur Beachtung gegeben. In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde das in der Großindustrie schon weit vorangeschrittene Normungswesen vereinheitlicht, aber auch in die mittelständische und in die Kleinindustrie wurde der Normungsgedanke mittlerweile hineingetragen. Die serien- und normenorientierte Konstruktion lieferte Werkstückzeichnungen mit allen Enzelheiten für die Fertigung. [SpKr-97]

Der Produktentwicklungsprozess und der Produktionsprozess wurden durch immer weiterführende Untergliederung und Differenzierung stetig analysiert und rationalisiert. Die gewonnenen Erkenntnisse und die daraus entwickelten Methoden wurden fortlaufend von der Industrie und eigens dafür gegründeten Institutionen, wie RKW2, AWF3 und VDI4-Ausschüssen in Gemeinschaftsarbeit verwertet und verfeinert. Mit dieser aufkommenden Konstruktionsmethodik wurde es möglich, den Konstruktionsprozess in einer allgemeinen, abstrakten Form zu beschreiben. [SpKr-97]

Bis in die 60er Jahre war die Integration im Unternehmen über die Werkstattzeichnung gegeben, das heißt der Konstrukteur, der Fertigungsplaner und der Meister in der Werkstatt konnten der Zeichnung alle für die Produktion relevanten Informationen entnehmen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Stücklisten wurden von Hand übertragen und in der Produktionsplanung ausgewertet. Die nachfolgenden 70er Jahre brachten den Einzug der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) in die Produktentwicklung und Produktionsplanung. Auch der Einsatz von numerisch gesteuerten Maschinen (NC-Maschinen) verbreitete sich. Obwohl die Entwicklung der CAD-Systeme gerade in diesem Jahrzehnt enorme Fortschritte machte und auch die 3D- Konstruktion begründet wurde, hielt die Verbreitung von CAD-Systemen keineswegs mit der Verbreitung von PPS5 - und NC-Programmiersystemen Schritt. Die große Rechnergeschwindigkeit und Speicherfähigkeit in der Phase des rechnerunterstützten Konstruierens führte zur Ausführbarkeit auch komplexer Algorithmensysteme wie der Finite-Elemente-Methode (FEM), die manuell nicht zu bewältigen ist. Die Anwendung geometrischer Modellierer lieferte als Ergebnis Modelle, die in vielfältiger Form zur Herstellung von Zeichnungen, Berechnungsergebnissen und Fertigungsplänen sowie NC- und Roboteranweisungen verwendet werden können. [SpKr-97]

Erst die 80er Jahre brachten eine größere Verbreitung der CAD-Technologie. Der Konstrukteur, dem geeignete Hard- und Software zum Konstruieren zur Verfügung steht, vollzieht diese Tätigkeit am CAD-Arbeitsplatz durch Zuhilfenahme von CAD-Systemen, mit denen auch Prozessabläufe unterstützt werden. Ein CAD-System kann CAD-Prozesse als lose Folge von getrennten Bearbeitungsprogrammen oder als Gesamtdurchlauf integrierter Prozessketten vollziehen. [SpKr-97]

In den 90er Jahre sind sogenannte Produktdatenmanagement-Systeme (PDM-Systeme), die vielfach auch Engineering Data Managementsysteme (EDM-Systeme) genannt werden, auf den Markt gekommen. Sie sind informationstechnische Werkzeuge, mit denen alle am Entwicklungsprozess Beteiligten effizient auf Konstruktionsdaten zurückgreifen. Sie verwalten systemübergreifend alle relevanten Daten über ein Produkt und die Prozesse der Produktentwicklung, wie beispielsweise Zeichnungen, Stücklisten und NC-Programme. [SpKr-97; GaEK-01] EDM-/PDM-Systeme werden in Kapitel PDM-Systeme ausführlich behandelt.

Im Verlaufe der zweihundertjährigen Entwicklung der industriellen Güterproduktion war die konstruktiv-gestalterische Tätigkeit erheblichen Veränderungen unterworfen. Bild zeigt dies zusammenfassend in den wichtigsten Phasensprüngen. [SpKr-97]




Bild: Evolutionsphasen des Konstruierens [SpKr-97]


Betrachtet man den Beginn des Rechnereinsatzes, so wurde anfänglich die Nutzung digitaler Rechenanlagen zur Verbesserung konventioneller Arbeitsprozesse genutzt und deshalb auch nur Rechnerunterstützung genannt. Mit der Entwicklung der Vernetzungstechnik wurde der Begriff der Rechnerintegration eingeführt. Die Organisierung der rechnerinternen Darstellung führte in Verbindung mit der Simulationstechnik zu Modellierungsverfahren, die nicht nur eine virtuelle Gestaltung von Objekten ermöglichen, sondern auch ihr Gebrauchsverhalten demonstrieren. [SpKr-97]

Die Leistungsfähigkeit der Informations- und Kommunikationssysteme ist bereits so hoch, dass ein durchgängig digitaler Produktentstehungsprozess (theoretisch) möglich ist [Ande-03]. Das bedeutet, dass die auf dem Markt befindlichen Softwareprodukte zwar in ihrer Gesamtheit die Möglichkeit eines durchgängigen Produktentwicklungsprozesses bieten, welcher jedoch aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Formate und Schnittstellen in der Praxis nicht gewährleistet ist. Eine große Herausforderung zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es deshalb, die Funktionalitäten der einzelnen Softwarelösungen, welche jeweils bestimmte Teilbereiche des digitalen Produktentwicklungsprozesses abdecken, zu integrieren. Eine solche Integration stellt die Arbeitsweise der Ingenieure vor neue Anforderungen, da Softwarewerkzuge von der reinen Konstruktionssoftware bis zur Projektsteuerungssoftware unter Berücksichtigung von Schnittstellen und vermehrter Interneteinbindung beherrscht werden müssen.

Durch die Weiterentwicklung informationstechnischer Systeme erhielt die Konstruktionstechnik weitreichende Impulse zu einer grundlegend neuen Gestaltung des Konstruktionsprozesses. Es handelt sich um einen Innovationsvorgang über drei Jahrzehnte, der von der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung über die geometrische Modellierung und Wandlung der graphischen Darstellungsmöglichkeiten zur Simulationstechnik und Wissensverarbeitung reichte und schließlich zur Virtualisierung der Produktentwicklung führt. [SpKr-97]

1 In der Konstruktionsmethodik wird der Vorgang des Konstruierens allgemein verstanden als das "vorwiegend schöpferische, auf Wissen und Erfahrung begründete und optimale Lösungen anstrebende Vorausdenken technischer Erzeugnisse, als das Ermitteln ihres funktionellen und strukturellen Aufbaus und Schaffen fertigungsreifer Unterlagen." [VDI-77; Ovtc-03]

2 Rationalisierungs-Kuratorim der Deutschen Wirtschaft

3 Ausschuss für Wirtschaftliche Fertigung e.V.

4 Verein Deutscher Ingenieure e.V.

5 Produktionsplanungs- und -steuerungssystem (PPS-System)


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